100meilen Berlin

Die Entscheidung, meinen ersten 100 Meiler in Berlin zu laufen entstand nach dem North Sea Ultra in Sylt. Die Hauptstadt als Austragungsort, und der Hintergrund des Gedenkens an die Opfer der Mauer waren nicht allein Motivation dafür. Meine Großeltern sind damals vor der Schließung der Mauer erfolgreich mit meinem 4-jährigen Vater aus Berlin in den Schwarzwald geflohen. Meine demente Großmutter konnte sich an die Zeit in Berlin erinnern und hat mir als Kind und Jugendlicher viel davon berichtet. Ihre „Berliner Schnauze“ und die gute Laune hat sie nie abgelegt und somit war es für mich ein Lauf zum Erinnern und Gedenken in der Hoffnung das so etwas wie die Mauer nicht wieder passiert.

Der Lauf wechselt jedes Jahr die Laufrichtung und führt die Läufer über den früheren Patrouillenweg der DDR-Grenztruppen. Jedes Jahr wird auch einem anderen Opfer der Mauer gedacht, aber dazu später mehr. Meine Wahl, das Hotel kostengünstig und zentral nahe dem Kudamm süd-westlich vom Zoo zu wählen, führte zu einer Bahnanreise zum Start mit einer Dauer von einer Stunde. So begann der Tag für mich bereits kurz vor 04:00 Uhr. In diesem Jahr war der Start am 17.08. um 06:00 Uhr am Friedrich-Ludwig-Jahnsportpark und verlief im Uhrzeigersinn. Da der Lauf auf öffentlichen Straßen, durch die Stadt und auf Radwegen verläuft, müssen sich die Läufer an die Verkehrsregeln halten. So ist auch das Halten an einer roten Ampel selbstverständlich und führt bei Verstoß zu einer Disqualifikation.

In der Innenstadt waren die ersten Kilometer noch ruhig und voller bekannter Sehenswürdigkeiten. Vorbei an verschiedenen Reststücken der Mauer, durch das Brandenburger Tor, dem Checkpoint Charlie, an der East Side Gallery und vielen Gedenkmalen. Die 26 Verpflegungsposten auf der Strecke waren hervorragend organisiert und ausgestattet.

Die Läufer hatten die Möglichkeit, sich ab dem VP9 bei Kilometer 61 in Teltow von einem Radbegleiter unterstützen zu lassen. Hier kam natürlich die beste Radbegleitung und Laufmanagerin ins Spiel… Mit einem eigens gemieteten E-Bike und verschiedenen Gadgets aus der Motivationskiste wartete Liv am Wechsel- und Verpflegungsposten auf mich. Dort war die Freude des Wiedersehens groß und auch meine Laufmotivation noch im absoluten Läuferhoch. Von den ersten Stunden und Kilometern hatte ich viel zu erzählen. So traf ich neben neuen spannenden Mitläufern auch wieder alte bekannte Gesichter wie Alexander und Kolja.

Das leicht bedeckte Wetter am Samstag hätte für Läufer nicht besser sein können. Die von Liv mitgeführte Wasserspritze tat doch zwischendurch immer wieder sehr gut. Bei Kilometer 78 wurde Günter Wiedenhöft gedacht, der mit damals 20 Jahren bei dem Versuch zu fliehen ertrankt. An der Stelle konnten die Teilnehmer an einer Pinnwand Gedenken und auch mit der Familie des Opfers ins Gespräch kommen.

Für uns ging es weiter, vorbei an dem Brauhaus Meierei, an dem auch ein kleines kaltes frisch gezapftes Bier nicht fehlen durfte! Bis Kilometer 120 konnte ich mein Läuferhoch halten und die Kilometer verflogen nahezu, während wir Karaoke, Tanzeinlagen und die Trainingsplanung für 2026 durchführten. Bei Einbruch der Nacht sank nach sehr sommerlichen heißen Tagen nicht nur die Temperatur, sondern leider auch bei mir die Motivation. Neben schmerzenden Fußsohlen und generell schweren Beinen nach über 120 Kilometern war es mal wieder der Kopf, der innerlich eine Bremse zog. Mit vielen Gehpausen ging es darum von VP zu VP zu kommen und sich über jeden absolvierten Kilometer zu freuen.

Für Liv war es umso härter in der Dunkelheit durch die Wälder und über teilweise sehr holprige Stücke zu rollen und dabei immer mehr auszukühlen. Im Lichtkegel der Kopf- und Fahrradlampe zogen sich die Passagen zwischen den Verpflegungspunkten. An diesen wollte ich inmitten der Nacht auch immer weniger essen und hatte nur noch das Ziel und Bett im Fokus.

Nachdem man nach gefühlten ewigen Stunden endlich aus den Wäldern und den kleinen Vororten Berlins endlich wieder ins Zentrum gelangte, war der letzte VP „Mauerpark“ nur noch für einen kurzen Schluck und nochmals Motivation die letzten Kilometer zu bewältigen. Wie durch Zauberkräfte konnte ich die letzten drei Kilometer nochmal in der Geschwindigkeit vom Anfang genießen und „flog“ förmlich zurück in den Sportpark und über die Stadionrunde. Nach 22h 40min erreichte ich als 120er das Ziel. Überglücklich, die Strecke absolviert und an dem Event teilgenommen zu haben und dankbar, dass ich nicht nur eine Partnerin habe, die meine Leidenschaft unterstützt und teilt, sondern auch wieder auf der Strecke mitgelitten und bestens versorgt und motiviert hat!

Neben bekannten Gesichtern, die man nach Jahren sofort wieder sieht und erkennt konnte ich auch großartige neue Bekanntschaften auf der Strecke machen! Das ist auch das Besondere am Ultra-Laufen, Bekanntschaften, aus denen auch Freundschaften entstehen und Erinnerungen, die man nie vergisst.

Die Medaille und die Gürtelschnalle (die alle Läufer erhalten, die unter der 24 Stunden Marke das Ziel erreichen), werden mich nicht nur an diesen einzigartigen Lauf erinnern, sondern auch an meine Großeltern und ihre erfolgreiche Flucht, sowie alle Menschen die ihr Leben oder ihre Familien an der Mauer verloren haben.